Anlässlich des 20. Jahrestags der friedlichen Revolution gab und gibt es vielerorts Veranstaltungen, Veröffentlichungen und Ausstellungen – so auch im rührigen Stadtmuseum meiner Heimatstadt. Von Oktober 2009 bis März 2010 ist dort eine sehenswerte Ausstellung zu besuchen: “Gesichter des Herbstes 89”. Die Ausstellung zeichnet anhand einer Vielzahl von Fotos von Profi- und Amateurfotografen die Ereignisse im Herbst 89 in Jena nach.
Ein Besuch der Ausstellung – zu dem man sich durchaus etwas Zeit mitbringen sollte – wirkt wie eine Zeitreise: Ereignisse und Eindrücke, die sich inzwischen ein wenig ins Unterbewusstsein verkrümelt hatten, kommen wieder nach oben, man steht erstaunt und durchaus bewegt vor den Szenen jenes Herbstes, der ja gerade auch in Jena eine Zeit heute kaum noch vorstellbaren Aufbruchs war.
Innerhalb des Begleitprogramms der Ausstellung gab es am 14. Januar ein Gespräch mit damals fotografierenden Zeitzeugen unter dem Motto Das gefährdete Auge der Kamera – Unwägbarkeiten und Erlebnisse beim Fotografieren in historischen Wendezeiten. Eine Art Sammlung von Geschichten zur oral history also. Zu meiner nicht geringen Überraschung bin ich mit ein, zwei alten Fotos in die illustre Runde eingeladen worden – wahrscheinlich in Folge der ebenso überraschenden Veröffentlichung von zwei meiner alten Fotos im Bändchen Wendezeiten Jena.
Um Mißverständnissen vorzubeugen – anders als die meisten anderen Gesprächsteilnehmer hab ich damals noch nicht einmal semiprofessionell fotografiert, noch war ich sonderlich widerständig. Die Fotos der anderen Zeitzeugen sind fotografisch und inhaltlich sicher besser gelungen – und oft standen dahinter dramatischere Geschichten.
Trotzdem war das Gespräch Anlass zu einer auch individiellen Zeitreise.
Meine kleinen Fotobeiträge aus dieser Zeit stammen vom 3. Dezember 1989 – an diesem Tag fand in Folge eines Aufrufs des Neuen Forums eine landesweite Demonstration statt, um den Forderungen zu einer demokratischen Umgestaltung des Landes Nachdruck zu verleihen. Es war dies jedoch nicht irgendeine der vielen Demos jener Zeit – das Vorhaben war, eine Menschenkette vom Vogtland bis nach Rügen zu schaffen. Um 12 Uhr stand diese Kette, die auch durch Jena verlief – ein von heute gesehen fast unglaublicher Akt der Willensbekundung. Der Jenaer Journalist Frank Döbert hat in einem kleinen Artikel die Menschenkette in die damaligen Abläufe in Jena eingebunden.
Zu dieser Zeit war ich frischgebackener Forschungsstudent an der Uni Jena, fotografierte ziemlich viel und verfügte über eine eigene Dunkelkammer. Und – ich war (von heute aus gesehen) unglaublich naiv. Das für andere permanent vorhandene Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung und Überwachung durch die Stasi hielt ich für absolut überzogen, die unerfreulichen Begegnungen mit Berufstschekisten während meines Militärdienstes hinterließen eher den Eindruck, es mit intellektuell wenig agilen Kleinbürgern mit eher schlichtem Gemüt zu tun zu haben. Und diese Typen sollten ein ganzes Land unter Kontrolle haben? Unvorstellbar für mich… Erst viele Gespräche mit unmittelbar Betroffenen später, erst nach dem Bekanntwerden des Grades der Stasi-Durchsetzung “meiner” Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft an der Uni, erst nach all den Berichten über geplante Internierungslager usw. musste ich mir meine Naivität eingestehen. Und dabei hatte ich doch die Aufmärsche der “Schutz- und Sicherheitsorgane” in Dresden selbst gesehen, als die Züge aus der Prager Botschaft noch einmal über DDR-Territorium geleitet wurden…
Aber gerade diese Naivität hat mich wohl auch dazu gebracht, an jenem Tag ziemlich unbeschwert in der Menschenkette zu fotografieren – am geeignetsten erschien mir der lange, damals noch sehr frei einsehbare Straßenzug der Karl-Liebknecht-Straße in Jena-Ost. Dass das öffentliche und ausführliche Hantieren mit meiner MTL 5 und diversen Wechselobektiven (kurz davor hatte ich mir ein gebrauchtes 200er Tele geleistet) auch missverstanden werden konnte, hab ich wohl kaum wahrgenommen.
Faszinierend war die Stimmung der Leute an diesem Tag – manches sieht man vielleicht in den Fotos: eine seltsame Mischung aus Anspannung, Offenheit, Neugier, Erwartung, Ernst und Freude, Zusammengehörigkeitsgefühl, für mich am ehesten im Bild der Kette selbst sichtbar. Seinen musikalischen Niederschlag hat diese Stimmung in Engerlings “Herbstlied” gefunden: “War das nicht ‘ne herrliche Zeit, jeder war zum Aufruhr bereit…” Nun ja, ein wenig anders ist ja alles gekommen.
Und – es war der Herbst der Kerzen 🙂 Es wär interessant zu wissen, was aus dem Mädchen mit der Kerze geworden ist…
Damals eher kurios war der Mann, der die Kette auf- und abmarschierte und eine Thüringer Fahne schwenkte. Nun war das künstliche Konstrukt der Bezirke – zumal unseres Bezirks Gera – nie sonderlich beliebt, aber eine Forderung nach Wiedereinführung der Länder stand seinerzeit eher nicht auf der Tagungsordnung. Von heut aus gesehen war der Mann also seiner Zeit weit voraus 😉
Die Fotos hier sind (vorläufig) etwas nachbearbeitete Scans von mäßig gut gemachten Abzügen – eins der schon lange auf Halde liegenden Projekte ist die Digitalisierung der Negativsammlung.
Um den Bogen zur Ausstellung wieder zu schließen: Sie ist mehr als nur sehenswert – höchst interessant und aufschlussreich mit Blick auf die Geschichte, sondern auch aus der Sicht des Mediums Fotografie. Und da hat dieser persönlich gefärbte Beitrag denn auch wieder seinen Platz in einem Blog zur Medienpädagogik 🙂
Wenn man das Thema weiter vertiefen möchte, würde ich den erst 2007 erschienen Bildband “In einem stillen Land” von Roger Melis wärmstens empfehlen – Melis unaufdringliche Art der Fotografie fängt die Realität der Zeit bis 1989 auf eine Weise ein, die auch heut noch Bestand hat.
[…] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von MadMaxde, Uwe Klemm erwähnt. Uwe Klemm sagte: neu von eventualitaetswabe: 1989 im Auge der Kamera – http://clicky.me/9Zq […]